Schlagwort: Post-Rock

unbedeutend ungenau

Ein Konzeptalbum ist auch eine Art, auf Corona zu reagieren. Und all die Veränderungen, die wir gerade erleben, komplett und allumfassend. So, wie es ein gutes Konzeptalbum eben auch ist.

Ob es bei „unbedeutend ungenau“ (Rookie Records) aber wirklich um Corona geht? Sicher nicht nur. Aber ebenso sicher sind die guten Texte immer die, die verschieden interpretiert werden können – und trotzdem funktionieren. Kann daher sein, dass es auch Leute gibt, die hierbei nicht an Lockdown denken:

Wirft es dich auf dich zurück
Von den Beinen auf den Rücken
Lässt dich weiter ratlos stehen
In den allerletzten Lücken
(…)
Es sind Wochen und Tage und Wochen und Tage…

In Wahrheit sind es schon Monate, und vielen kommt es vor wie Jahre – die Zeit und der Zustand, in der und dem alles anders ist. Also haben auch Illegale Farben ein Album gemacht, das ganz anders ist als seine beiden Vorgänger. Aber vermutlich sind die fünf Bandmitglieder in gewisser Weise auch andere Menschen, als sie es noch anno 2016 waren. Zumindest ist ihnen das, wie uns allen, zu wünschen.

Vielleicht ist aber „anders“ gar nicht das richtige Wort. „Besonders“ passt viel besser. Die Band jedenfalls hat alles getan, um „unbedeutend ungenau“ zu einem solchen zu machen. Nicht nur, weil die Platte physisch in streng limitierter Auflage von 100 Stück erscheint. Bis auf’s letzte Detail durchdacht ist außerdem die Songanordnung und die Bebilderung, eine Kurzgeschichte ist beigegeben, und die Veröffentlichung wird durch einen halbstündigen Film begleitet. Mehr Konzept geht kaum.

Illegale Farben verarbeiten den Lockdown nicht nur in Wort und Ton. Sie setzen zugleich die Abkehr von alten (zumeist schlechten) Gewohnheiten durch. Denn irgendwie hat uns doch die Pandemie gelehrt, dass im Leben mehr drin sein sollte als Tretmühle, Hetze, alltägliches Stückwerk. „unbedeutend ungenau“ jedenfalls ist und will das große Ganze. Es zu hören erfordert Konzentration und … Zeit. Es soll nicht zwischen Tür und Angel konsumiert, sondern als Kunstwerk erlebt werden.

Dabei geht es nicht um die einzelnen Songs. Wohl aber um die Musik. Und immer diese starken Worte. Wenn sie auch so manches Mal verklausuliert werden, sind die Beobachtungen doch immer ganz nah dran an der Situation und das Fazit daraus immer so verblüffend klar:

Die Wahrheit ist
Es muss einfach gehen

Eine fast genauso wichtige Rolle wie die sechs Songs spielen auf „unbedeutend ungenau“ die Zwischentöne. Soundfetzen lassen die Tracks gar nicht richtig enden, leiten von einem in den anderen über und machen aus dem Album ein in sich geschlossenes Element. Die Band will explizit, dass man es am Stück anhört. Und das ist genau richtig. Begleitet von Textlektüre und Film wird ein selten intensives Hör-, Seh- und vor allem Denkerlebnis geboten. An dieser Stelle kann nur empfohlen werden, auf diese Weise eine sehr bedeutsame Stunde, oder zwei, mit Illegale Farben zu verbringen. Das bringt die deprivierten Sinne auf Touren und macht Lust auf das Leben nach dem Lockdown, in dem so vieles besser werden könnte:

Bis ein neuer, schlichter Tag
Dich in die Arme nimmt
und zu den Anderen bringt

 

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Rookie Records

For The First Time

Was macht das mit einer Band, deren Mitglieder gerade einmal Anfang 20 sind und die nach der Veröffentlichung von nur zwei Singles als „beste Band der Welt“ (The Quietus) deklariert wird? Nun, Black Country, New Road haben zunächst in Ruhe ihr Debütalbum „For The First Time“ (Ninja Tune) fertiggestellt. In einem Interview für The Guardian geben sie sich zudem gelassen, dass wohl 30 Prozent derer, die es sich anhören, es absolut hassen. Und das ist keine bloße Attitüde. Denn wer sich die Texte des Albums genauer ansieht, versteht, dass die Londoner ganz andere Probleme haben als die Sorge darüber, ob ihre Musik irgendjemandem gefällt.

Denn so handwerklich großartig „For The First Time“ eingespielt ist, so uneitel ist sein ganzes Konzept. Radiotauglichkeit? Eignung für Streamingdienste? Ohrwurmmelodien? Darum geht es hier nun wirklich nicht. Mit gerade einmal sechs Songs kommt das Album auf ganze 41 Minuten Spiellänge. Und der Hörer weiß im besten Falle am Ende nicht, wohin mit seiner inneren Aufruhr. Die Texte – brutal ehrlich, sarkastisch, ekstatisch – finden ihre Vervollkommnung in einer Mischung aus Free Jazz, Post- und Art-Rock. So ernst, so reif, so abgeklärt reihen sich Newcomer ein zwischen ihre Kollegen von Fat White Family, Black Midi, Fontaines D.C. oder The Murder Capital.

Ohne Zweifel: Auf den britischen und irischen Inseln legt man gerade großen Wert auf Aussage und Attitüde. Grimmig heißt es dazu bei Black Country, New Road:

References, references, references
What are you on tonight?
I love this city
Despite the burden of preferences
What a time to be alive

„For The First Time“ bedient sich nicht nur angstlos an einer reichen musikalischen Tradition und hält unzählige Verweise auf die Popkultur bereit. Auch soziologisch ist es unglaublich interessant. Das Septett präsentiert ein ungeschminktes Bild seiner Generation Z, die – sehr bezeichnend und nicht zu beneiden – am Ende einer Skala steht. Schlau sind sie, diese Leute, und kennen kaum Grenzen. Die Songtexte sind ganze Elaborate und enthalten Bekenntnisse, die ihre Eltern sehr wahrscheinlich, ganz sicher aber ihre Großeltern nicht hören wollen. Wenn Sänger Isaac Woods ein bedrohliches Zittern in seine Stimme legt und dazu entrückt mit den Augen rollt, hat das durchaus etwas Psychopathisches:

OK today I hide away
But tomorrow I take the reins
Still living with my mother
As I move from one micro influencer to another

Es brodelt tief drinnen bei Black Country, New Road. Ihre Wildheit, die auf den ersten Blick erfolgreich hinter einer gutbürgerlichen Fassade verborgen wird, bricht sich mehrere Male auf „For The First Time“ rauschhaft Bahn. Ganz exemplarisch dafür steht „Sunglasses“, das in der zensierten Albumversion von unverblümten Zeilen wie „Just fuck me like you mean it this time, Isaac“ befreit wurde.

Müssen wir uns also Sorgen machen? Wohl kaum. Jede Generation macht in ihren frühen Twens eine erste Katharsis durch. Und diese sieben Londoner sind alles andere als kopflos. Vielmehr sind sie bemerkenswert reflektiert und haben die Fähigkeit, verwirrende Gefühle in kreative, nicht destruktive Bahnen zu lenken. So etwas wie Black Country, New Road passiert der Pop-Welt ziemlich selten. Die euphorische Betitelung als „beste Band der Welt“ ist da zwar nachvollziehbar, kann aber eigentlich nur schaden. Hingegen ist wahr, dass die Anziehungskraft von „For The First Time“ von der ersten bis zur letzten Note funktioniert. Nur schwer kann man sich dem entziehen. Black Country, New Road strahlen sowohl auf Platte als auch bei Live-Auftritten eine irre Präsenz aus. Das macht sie zu den perfekten Gefährten (nicht nur) im Lockdown.

 

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In A Box

Musik aus Deutschland, die nicht wie Musik aus Deutschland klingt – das kann ja schonmal als Gütezeichen gelten. (Wobei damit nicht notwendig gesagt ist, dass sie dann wie Musik aus UK oder USA klingen muss.) Bei KID DAD aus Paderborn ist es wohl eine gewisse Besonnenheit, Smartness sozusagen, eine reif wirkende Liebe zum Detail und nicht zuletzt eine saubere Produktion, die ihr Debütalbum auf ein internationales Level heben. Und so nimmt es nicht wunder, dass das Quartett die Tour zu „In A Box“ (Long Branch Records / SPV) zur Hälfte in Deutschland und wie selbstverständlich zur Hälfte in Großbritannien (so es Corona will) absolvieren.

Newcomer sind sie, aber KID DAD wissen was sie tun. Nach einem kurzen, Spannung aufbauenden Intro wird der Hörer mit „A Prison Unseen“sofort in ihr Universum reingezogen. Oder besser: hochgezogen. Er lässt jede Trägheit und Schwerkraft fahren und hebt willig ab in euphorische Höhen, die die schöne Seite von Emomusik sind. Mit einer gewissen Nirvana-Manier (siehe „Heart-Shaped Box“) holt uns „Happy“ dann ein Stück weit wieder zurück auf den Boden und geht ans Eingemachte: „How happy are you now?“

Immerhin kann auf diese Frage mindestens mit einem „Geht schon“ geantwortet werden, wenn KID DAD mit im Spiel sind. Denn trotz bedrückender Themen, Weltschmerz und Selbstzweifel kann Einem beim Hören von „In A Box“ nicht komplett mies sein. Und letztlich sagen die Vier es in „(I Wish I Was) On Fire“ selbst: „I wish I was not dead.“ Das Album hat kräftige Riffs, eingängige (manchmal etwas süßliche) Melodien, spricht an und nimmt ein. Ist nicht leicht und nicht schwer zu verdauen. Es lässt Einen nicht allein. Das ist doch alles, was ein gutes Album braucht.

 

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Fleet Union

THE MURDER CAPITAL – Live-EP mit FKA Twigs-Cover

The Murder Capital haben gerade die Live-EP „Live From BBC Maida Vale“ über ihr Label Human Season veröffentlicht. Die drei auf der EP enthaltenen Songs wurden kurz vor der Pandemie in den BBC Maida Vale Studios für Annie Macs Future Sounds Sendung aufgezeichnet. Neben den Fan- und Live-Favoriten „Don’t Cling To Life“ und „Green &…

Trust The River

Alte Liebe rostet nicht. Den Beweis liefert Jim Ward mit dem neuen Album „Trust The River“ (Dine Alone Records), für das er seine Band Sparta nach ganzen 14 Jahren Dornröschenschlaf wieder wachgeküsst hat. Denn wirklich beendet hatte er dieses Projekt nie. Ebenso wenig wie weitere musikalische Projekte, die er seit dem Zerbrechen von At The Drive In (die ja auch wieder zusammengefunden haben, allerdings ohne Wards Zutun) solo oder mit anderen Kollegen in Angriff genommen hat.

Alles fließt also, im Schaffen von Jim Ward, und vielleicht lässt sich dahingehend der Albumtitel interpretieren. Wie im Fluss hören sich auch die zehn Songs weg, was Wards hervorragenden Songwriterqualitäten und einer ebensolche Produktion zu verdanken ist. Abrundend kommt die helle und irgendwie aufmunternde Stimme hinzu, von der man sich schon im Opener gerne mitreißen lässt, wenn sie mit großer Geste ruft: „You set me free!

Starke Melodien und Emotionen, für die sich niemand schämen muss – das Grundkonzept von „Trust The River“ hatte bereits die erste Vorab-Single „Empty Houses“ angekündigt. Leichte Abweichungen weisen nur „Graveyard Luck“ mit seiner klaren rockigen Kante und vor allem „Cat Stream“ auf, das mit brüchigen Post-Rhythmen am ehesten auf die At The Drive In-Vergangenheit verweist. Umso überraschender erscheint Wards Bemerkung, dass es genau dieser Song war, der ihn motiviert hat, seine Sparta-Kollegen für ein neues Album zusammenzutrommeln.

Im Ganzen wirkt „Trust The River“ ein bisschen wie aus den Neunzigern herausgefallen. Da ist „Spirit Away“, das im Stile der damals – dank Nick Cave – so populären Murder Ballads gehalten ist, nur das sprichwörtliche I-Tüpfelchen. Aber das ist nur legitim, schließlich ist Jim Ward ein verdienter Musiker, der selbst aktiv am eigenen Erbe basteln darf. Oder in seinen eigenen Worten von „Turquoise Dream“ ausgedrückt:

This is my home
this is my place
another time.

 

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