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Everything Now

Der Name ist Programm. ‚Everything now‘ hat tatsächlich alles. Und gerade das bekommt dem Album nicht bloß gut.

Arcade Fire haben schon echt wahnsinnig gute Alben rausgebracht. Denken wir an ‚Funeral‘ zurück. Eine Folk-Naturgewalt, welche selbst David Bowie zum Fan werden ließ – und das war erst der Anfang. Dann kamen ‚Neon Bible‘ und ‚The Suburbs‘: auf beiden kommt ihre unverwechselbare Art, Rocksongs losgelöst von Konventionen zu kreieren, und ‚der‘ typische Bandsound zum Vorschein. Der letzte Streich ‚Reflektor‘ war ein psychedelischer Ausflug zu bislang neuen, negativen, düsteren Sphären.

‚Everything Now‘ hat den Manus, dass es keine klare Linie fährt. Und den Bonus, dass die Kanadier beweisen, wie viele Genres sie beherrschen, wenn sie wollen, ohne dabei gänzlich ihren Sound zu verlassen. Abwechslung ist garantiert. Jeder findet wenigstens einen Song, dem ihm den Erwerb der Scheibe wert sein wird. Es gibt aber auch immer wieder Kleinigkeiten, die penetrant anfangen können, die auditiven Nerven zu strapazieren. Die gleichnamige Single ‚Everything Now‘ hat fetzige Disco-Elemente mit funky Bass und beinahe anpreisendem Background-Ruf. Und das Experiment mit der Panflöte im Chorus kann man noch akzeptieren. Aber wenn dann die Klaviermelodie gleich zu Beginn sich so extrem an ABBA bedient und immer wieder auftaucht, kann man die Hälfte des Songs kaum noch ernst nehmen, weil man sich unfreiwillig die Bandmitglieder im schwedischen Seventees-Look vorstellt.

Ähnlich ergeht es da dem eigentlich starken ‚Creature Of Comfort‘, wo ein durchweg surrender Synthie kombiniert mit einer durchschwingenden E-Gitarre für durchdröhnende Energie en masse sorgen. Schade nur, dass in den letzten anderthalb Minuten der Band scheinbar die Akkorde ausgehen und sie auf einem verharrt, wodurch es nur noch langatmig wird. Hinzu kommt ein so hoher, aufdringlicher Gesang von Régine Chassagne, dass sie fast schon als Zweitbesetzung bei Die Antwoord gecastet werden könnte. Bei ‚Infinite Content‘ wird es schief und punkrockig, ehe der Song bei – man beachte den Unterschied –
‚Infinte_Content‘ gemächlich mit einem Prärie-Country zu Ende geht. Eine Portion Weltall-Synthie mit jaulendem Glissando gibt es dann noch bei ‚We Don’t Deserve Love‘.

Es gibt aber auch Songs, die experimentell besser geglückt sind. ‚Peter Pan‘ ist ein entspannter Synthie-Reggae, der an eine softe ‚Humanz‘-Version von Gorillaz erinnert. Hier zeigt Win Butler im Refrain sogar seine unmelodische Seite und nähert sich mit Sprechgesang dem Rap-Genre an. Darauf folgt ‚Chemistry‘, der vielleicht tollste Song des Albums. Vor dem geistigen Auge marschieren hier Arcade Fire gemeinsam mit den Beatles und einer kleinen Blaskapelle durch die Straßen und verbreiten gute Laune, welche jeden Hörer auf die Beine holt und mitziehen lässt – nur, um im Refrain dem lässigen Schritttempo mit 80er Classic Rock mehr Wucht zu verleihen.

Ein Schmankerl liefert das Album, indem man die Anlage auf Repeat eingestellt hat. Dann schließt nämlich der letzte Song ‚Everything Now (continued)‘ fließend an das Intro der Platte, welche zufälligerweise genauso heißt. Und man ist trotz ungewöhnlicher Genre-Kombinationen und teilweise nerviger musikalischer Ideen und Sounds dennoch gewollt, dieses fünfte Album von Arcade Fire nochmal durchzuhören. Dass der ‚Wir machen alles mögliche‘-Gedanke für das Gefühl eines einheitlichen Albums im Vergleich zu ‚Funeral‘ oder ‚Reflektor‘ nicht nur positiv ist, heißt im Endeffekt nicht, dass die Songs für sich schlecht sind. Jeder hat Charakter, jeder wird einen Fan ansprechen. Und je öfter man diese wilde Ausstellung an Höreindrücken über sich ergehen lässt, desto mehr Gefallen findet man an ihr.

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