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Victoria (Music for the Motion Picture)

Film ab und kein Zurück: Zweieinhalb Stunden Dialoge aus dem Bauch, eine fließende Handlung, gespielt vor offener Linse, und dann ab mit dem ganzen, ungeschnittenen Monstrum ins Kino. Es war ein völlig durchgedrehtes Projekt – im wahrsten Sinne des Wortes: Dreimal haben Sebastian Schipper und sein Filmteam angesetzt, ohne abzusetzen. Dreimal haben sie Laia Costa – sie besetzt die Hauptrolle der jungen und titelgebenden Spanierin ‚Victoria‘ – mit vier Hauptstadtrabauken durch die Berliner Nacht getrieben, raus aus der Afterhour, rein in ein krummes Ding. In dieser Woche läuft ‚Victoria‘ in den Kinos an; den Soundtrack gibt’s am Folgetag im Plattengeschäft zu kaufen.

Warum gerade Nils Frahm mit der Musik zum Film betraut wurde, oder eher: warum Nils Frahm erst jetzt zum Scorer geworden ist, erschließt sich relativ schnell. Die Improvisation ist eines seiner Fachgebiete, das Schnittfreie und Kontinuierliche sein täglich Brot. Revision, Verfeinerung und anderen Nachträglichkeiten verschließt er sein Spiel. Ganz oder gar nicht, keine halben Chancen – das galt für ‚Victoria‘ und alle Kunstformen drum herum. Frahm und seine Gastmusiker spielten an ihm entlang, Rezipienten und Schöpfer zugleich, bewaffnet mit nichts als ihrer Intuition. Cellistin Anne Müller, Violinist Viktor Orri Árnason und Ambient-Artist Erik K. Skodvin (Deaf Center) an der Gitarre stellten sich an ihren Instrumenten derselben Herausforderung wie Schippers Darsteller: An der losen Leine zur Echtheit zu finden. Nichts, worin sie nicht zur Genüge erprobt wären.

Nachdem DJ Kozes ‚Burn With Me‘ noch auf einen arglosen Clubbesuch hindeuten, zieht sich Frahm recht schnell den Techno-Tropf aus der Vene und tut das, was er am besten kann: Subtile Harmonien ertasten. Während sich Victoria und Entourage mit noch sausenden Ohren durchs frühmorgendliche Berlin treiben lassen, balanciert der Pianist die Atmosphäre auf verfilzten Akkorden, hier und da von einem Rauschen, dumpfem Pochen oder scheinbar beiläufigen Geräusch-Artefakten garniert. In klanglicher Hinsicht offenbart sich darin eine enge Verwandtschaft zum erst Ende März veröffentlichten Album ‚Solo‘: Die Stücke suchen sich ihren Weg und die Klaviermechanik liegt bloß. Müllers Cello-Dreingaben führen sie zeitweise aber auch seinem ähnlich geduldigen Label-Bruder Ólafur Arnalds ins Gehege, wenn sie nicht gerade in dronig-düsterem Geköchel zerlaufen.

Die Titel der Stücke (‚A Stolen Car‘, ‚The Bank‘, ‚The Shooting‘) täuschen im Hinblick auf die Action, die ganz den Bildern überantwortet wird, lassen aber vage erahnen, was den Nachtschwärmern widerfahren könnte. Anstatt sich mit ins Getümmel zu stürzen oder wenigstens in der Afterhour zu verweilen, räkelt sich der Soundtrack im sanften Mantel der Morgendämmerung und lässt sich von ihr die Kanten weichzeichnen. Die Euphorie mag von der stillen Sorte, die Dringlichkeit eine verkappte sein; welche Abgründe sich in den Akteuren auftun, beschreibt die Musik dennoch überzeugend im Alleingang.

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