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The Color Before The Sun

Bei Coheed and Cambria war er noch nie leicht, die Musik zu beschreiben. Progressive Metal, Alternative Rock, Post-Hardcore – die Versuche, die Band um Frontmann und Comic-Autor Claudio Sanchez in eine bestimmte Schublade zu stecken waren beinahe so zahlreich wie die Sterne im bandeigenen Sci-Fi-Universum Heaven’s Fence. Jenes war im Umkehrschluss, gemeinsam mit den Abenteuern der namensgebenden Coheed und Cambria die Konstante, auf die auf den letzten sieben Alben Verlass war. Nun hat Sanchez mit Album Nummer acht die Spielregeln auf den Kopf gestellt. „The Color Before The Sun“ ist das erste Album der Band, das nicht im fiktiven Comicuniversum „The Amory Wars“ spielt. Und auch musikalisch hat sich einiges geändert.

„Ich wollte die Leute wissen lassen, dass Coheed diese Art von Album schreiben kann“, erklärt Frontmann Sanchez. „Ich habe in der Vergangenheit immer gesagt, dass es für die Band keine Limitierungen gibt. Es macht für mich keinen Sinn einen Linie zu ziehen, die man niemals übertreten will.“

Doch das ist wohl nur die halbe Wahrheit, die im privaten Umfeld des Sängers seinen Ursprung haben dürfte. In der Zeit eines Umzugs vom Land in den New Yorker Stadtteil Brooklyn nach dem Verlust des Heims durch Vandalismus und der baldigen Ankunft des ersten Kindes ist unvorbereitet sehr viel Vertrautes in Frage gestellt. So gesehen mutig, aber auch naheliegend, dass der Vollblutkünstler seine Gefühle in seinem neuen Album verarbeitet hat bzw. die neuen Umstände das Album emotional grundlegend geprägt haben. Es ist nicht mehr die Geschichte von Coheed und Cambria, den unbesiegbaren Weltraumhelden. Es ist die sehr persönliche Geschichte von Claudio Sanchez – einem verletzlichen Mann wie du und ich.

„Normalerweise muss ich in meinen eigenen Geist eintauchen und diese Charaktere kreieren“, kommentiert Sanchez diesen Aspekt des Albums. „Also fühlte ich mich sehr entblößt. Ich wusste, dass meine Nachbarn mich hören können. Ich denke, dass ist unterbewusst in die Musik eingeflossen. Ich habe diese Ansammlung von Songs zusammengetragen, die ziemlich gut die Situation beschreiben, wie ich mich fühlte. Ich verstand nicht, wer ich war, wer ich sein wollte. Ich schrieb diese Stücke, für die es nicht irgend ein konkretes Rezept gab. Es fühlte sich einfach fremd an.“

Doch zunächst klingt das Album gar nicht verunsichert oder orientierungslos. ‚Island M‘ als Auftakt ist sogar geeignet, mit seinem knalligen Riff und einem Frauen-Chor Gute-Laune-Hormone für den einbrechenden Herbst freitzusetzen. Doch nicht nur das, die Musik ist geradliniger, zugänglicher, poppiger – und bleibt im Ohr. ‚Colors‘ ist gar eine träumerische Pop-Rock-Ballade, nachdenklich zwar in der Stimmung, aber doch mit dem gewissen Alles- wird-gut-Dreh. ‚Here to Mars‘ ist eine simple aber energiegeladene Alternative-Rock-Liebeserklärung an seine Frau. Die ruhige Akustikballade ‚Ghost‘ schliesslich ist ein Song, den man von der Band so niemals erwartet hätte. Eine nachdenkliche, minimalistische Reflektion Sanchez‘ darüber, was für eine Art von Vater er sein möchte und wohl werden wird mit einem Hauch Folk. ‚Atlas‘ ist der Name von Sanchez Sohn und das gleichnamige Lied erinnert am ehesten an die „alten“ Coheed and Cambria. Er drückt musikalisch erstklassig das Gefühlschaos aus, das Sanchez empfunden hat, als er das erste Mal darüber sinniert, seinen Sohn zurückzulassen, um auf Tournee zu gehen.

„Der Grund für das bisherige Konzept war, dass es wie ein Vorhang war, hinter dem man sich verstecken konnte“, erklärt Sanchez. „Ich fand es immer sehr schwierig dieser „das Herz auf der Zunge tragende Songwriter“ zu sein. Vielleicht war es die Angst vor einer Beurteilung. Es fühlte sich an, als könnte ich mich hinter all diesen fiktiven Charakteren verstecken, sodass mich niemand verurteilen kann. Sie verurteilen vielleicht das Werk, aber es fällt nicht auf mich zurück. Es ist fast, als hätte ich versucht mich von der Kunst zu distanzieren, wobei ich es dieses Mal begrüßt habe und der Kunst erlaubt habe ich zu sein.“

Das spürt man dem Album jede Minute an. Es ist sehr ehrlich, sehr authentisch – auch wenn wohl viele Fans ihre geliebte Band nicht mehr wiedererkennen werden. „The Color Before The Sun“ ist gemessen an früheren Alben verhältnismässig schlichter Alternative Rock. Mit echten Emotionen und wundervollen Melodien. So kann es klingen, wenn Nerds erwachsen werden. Früher oder später trifft es jeden von uns.

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