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Sleep

„Durch ‚Sleep‘ will ich herausfinden, wie das Gehirn Lebensraum für die Musik sein kann, wenn unser Bewusstsein Urlaub hat.“

– Max Richter über ‚Sleep‘

Genau wie man Sushi nicht mit Messer und Gabel zerteilen würde, sollte man auch tunlichst nicht die besten Phasen aus seinem Nachtschlafes herausfiletieren, um sie dann als ultimative Erholung etikettiert abzufüllen. Denn selbst der schönste Traum, der tiefste Schlummer funktioniert nicht ohne einen gewissen Anlauf, ohne diese flache Rampe in die mentale Schwerelosigkeit.

Neo-Romantiker und Hobby-Somnologe Max Richter wünschte sich nichts sehnlicher, als seine Hörer aus dem postmodernen Alltagsstress heraus hinein in den Schlaf zu wiegen und hat dafür einen sanften Koloss erschaffen: ‚Sleep‘. Da aber ein physischer Release des achteinhalb(8 1/2 !)stündigen Werkes aus ersichtlichen Gründen untunlich gewesen wäre, stößt der dem Physischen zugeneigte auf dessen als ‚From Sleep‘ betiteltes Destillat: eine CD mit den größten Highlights aus acht Stunden Lullcore, dem dringend benötigten „Wiegenlied für eine hektische Welt“, wie der Komponist es begriffen wissen möchte. „Highlights“, die so aufregend sind, dass man weiterschläft. Diese geraffte, industriegerechte Ausstellungs-Version schickt einen durchweg hörbaren Ambient-Happen ins Rennen. Wer allerdings Max Richter einen Gefallen tun – soll heißen: wirklich einschlafen – möchte, „begnügt“ sich besser mit der ausschließlich digital erhältlichen Vollversion, die formvollendete Langeweile und bemühte Sperrigkeit als ganz besonderen Luxus verkauft. Er erwarte gleichwohl nicht, so Richter, dass irgendwer sich das in Gänze und bei vollem Bewusstsein anhöre (Ha – wenn der wüsste ..!).

Der ambient-affine Klassik-Komponist spricht im Zusammenhang mit seinem neuesten Opus gern vom erstrebenswerten „Aus-Knopf“, führt seine Vision aber noch deutlich weiter. ‚Sleep‘ liefert einen nicht bloß an Hypnos‘ Pforte ab und verduftet nach einem hastigen Druck auf die Türklingel, sondern schlüpft glatt mit hinein und steht einem auch während des Träumens mit einem ausufernden Fantasiereisen-Fundus zur Seite. Inwieweit das gedehnte, zeitvergessene Spiel des American Contemporary Music Ensemble (ACME) tatsächlich zum (idealerweise) ratzenden Hörer durchzudringen vermag, ist eine wissenschaftlich zu klärende Frage, der Richter wohl auch im Gespräch mit Neurowissenschaftler David Eagleman nachgegangen sein wird. Einer geruhsamen Nacht und einem Aufwachen wie auf Wolken dürfte aber schon rein von der Ästhetik her nichts entgegenstehen.

Im Wachzustand allerdings könnte ‚Sleep‘ einem in seiner Seelenruhe, seiner demonstrativen Ereignislosigkeit zur Weißglut bringen. Wenig überraschend setzt Richter hier auf Fläche, Fläche und noch mal Fläche. Erstreckt sich weit. Atmet durch. Macht kein Drama, regt sich nicht auf. Unter dem Titel ‚Dream‘ zieht sich ein wiederkehrendes, bleischweres Klaviermotiv durch das Werk – eine regelmäßige Heimkehr ins Vertraute, die beruhigt. Dazwischen lässt das Richter-Ensemble seine Schutzbefohlenen auf weitläufigen, mal mehr, mal weniger saftigen, hin und wieder synthetisch untermalten oder gesanglich verstärkten Traumlandschaften ausgiebig grasen, jedoch nie ohne das unumgängliche Schlupfloch zurück in den warmen, butterweichen, basslastigen Schoß des Ganzen. Dem Tiefschlaf?

Das scheinbar völlige Negieren musikalischen Konkurrenz- und Unterhaltungsanspruchs mag befremdlich erscheinen. Doch allein die erfolgreiche künstlerische Umsetzung und Ausfertigung dieses Mammutprojekts verdient Lob und Anerkennung. Das endgültige ‚Sleep‘-Erlebnis allerdings soll erst im Oktober angeboten werden. Dann nämlich stehen an einem noch nicht näher bezeichneten Veranstaltungsort in Berlin hunderte Betten parat, während ein Orchester das Publikum von Mitternacht an bis zum nächsten Morgen auf Händen trägt. Ob die es dann hinbekommen, nicht einzunicken? Und was ist, wenn die mal müssen? Relativ wahrscheinlich, dass Max Richter auch für solche Fälle smoothe Vorkehrungen getroffen hat.

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