Bei einer Band mit, sagen wir, fast 18 Jahren Bandgeschichte, fünf Studioalben und über 11 Millionen verkauften Exemplaren könnte man annehmen, dass sie langsam aber sicher auf den gefährlichen Zeitpunkt zusteuert, an dem sie ihre Fans maßlos enttäuscht. Aktuelle Beispiele aus der Musikwelt sind so zahlreich wie die Tattoos auf Travis Barkers Körper. Es ist diese Peripetie, nach der alles nur noch den Bach runterläuft und man rasch von einer neuen, meist jüngeren Aufsteiger-Band aus den Plattenläden und den Köpfen verdrängt wird. Es ist unausweichlich und nur eine Frage der Zeit.
Für Snow Patrol jedenfalls scheint diese Zeit noch lange nicht angebrochen zu sein. Man könnte fast sagen, dass sie erst jetzt richtig in Fahrt kommen. Zum prägnanten Datum 11.11.2011 veröffentlichte die fünfköpfige Band mit irischen und schottischen Wurzeln ihr bereits sechstes Studioalbum mit dem Namen ‚Fallen Empires‘, das den hohen Erwartungen von Fans und Kritikern allemal gerecht wird. Sicherlich nicht leicht. Immerhin erwartete man, dass sie sich einerseits weiterentwickeln, aber andererseits bitte nicht zu viel. Das ist die Glanzleistung dieses modernen Longplayers, mit dem die Jungs von Snow Patrol ihre Fans äußerst gefühlvoll an die Hand nehmen und ihnen zeigen: Schaut mal, da wollen wir hin, aber wir sind immer noch dieselben. Die Worte von Sänger Gary Lightbody könnten das Album nicht besser beschreiben: 'It's different but it's great.'
'I'll Never Let Go' beschert dem Hörer einen wunderbaren Einstieg. Mit dem sanften Akkustik-Gezupfe gefolgt von einer schnellen Rhythmusgitarre erinnert der Song stark an den Aufmacher vom letztem Album 'A Hundred Million Suns' (2008) und als die Stimme von Lightbody die Strophen in seiner gewohnt monotonen, melodischen, aber dennoch leidenschaftlichen, unverwechselbaren Art zu singen beginnt, ist jede Besorgnis gewichen. Die Spannung steigt, Schlagzeug, Keyboard und Hintergrundchor (L.A. Inner City Mass Gospel Choir) setzen ein. Die Textzeilen klagen jemanden an, der immer laut beteuerte 'I'll never let go', später doch alle enttäuschte und nun wieder aufkreuzt. Die Zeile 'It was the last highway you would ever travel, the long road from a daughter, wife and son' lässt vermuten, dass Lightbody ein Problem in seiner Familie besingt – zur Abwechslung einmal nicht so 'simple and pure', wie er es in seinen anderen Texten pflegt. Der Song soll ein 'astreiner Ausgeh-Track sein, eine richtige Electro-Nummer', so die Band. 'Zwar gab es in unseren Songs schon immer so einen gewissen Dance-Beigeschmack', erzählt Lightbody 'doch für dieses Album haben wir den viel offensichtlicher zum Vorschein kommen lassen. Ich freue mich schon darauf, ein paar der neuen Songs im Club zu hören, weil die Leute auf jeden Fall darauf abgehen werden. Sonst verlassen immer welche die Tanzfläche, wenn unsere Stücke kommen.'
Dass gerade bei dem schönen, aber etwas langatmigen Intro von 'I'll Never Let Go' die Tanzfläche brennen soll, mag man zu Recht bezweifeln. Andere Songs wie 'Called Out In The Dark' und 'In The End' und 'The Symphony' sind dagegen ohne Frage äußerst clubtauglich. Besonders bei 'Called Out In The Dark', wo im Refrain zum ersten Mal die großen Synthesizer-Geschütze aufgefahren werden, gibt es jedoch diesen heiklen Moment, bei dem man befürchtet, Snow Patrol könnten wie die Editors zu einem geschmacklosen Electro-Pop konvertiert sein. Doch glücklicherweise kriegt die Band gerade noch so die Kurve und lässt in der anschließenden Strophe wieder bekannte Töne klingen. Doch wahrscheinlich sind es diese Spritzer Experimentierfreudigkeit, die das Album so interessant und hörenswert machen.
'Unser Ziel lautete in der Tat, eine extrem ambitionierte Platte zu machen'‚ erklärt Lightbody. 'Das letzte Album von Arcade Fire, 'The Suburbs', hat uns klar gemacht, dass wir einfach noch mehr geben müssen. Danach fassten wir sofort den Entschluss, ein Album zu machen, dass ganz anders als die Vorgänger klingt. Das war nicht immer leicht, schließlich haben wir so die meiste Zeit auf ungewissem Terrain verbracht, auf Neuland, wo wir uns nicht auskannten.' Um dieses Ziel zu erreichen, holte sich die Band viele prominente Veteranen ins Boot. Als Produzenten stand der Langzeit-Verbündete Garret 'Jacknife' Lee bereit, der neben dem Abmischen auch selbst mal in die Keyboardtasten hieb, zum Beispiel bei dem Song 'Lifening' (eine Wortschöpfung aus 'Life' und 'Lightning'). Auch Troy Van Leeuwen (Gitarrist von Queens Of The Stone Age) und Folk-Rock-Sängerin Lissie (Paste Magazine’s #1 best new solo artist of 2010) unterstützten die Jungs in diversen Songs mit Gitarrenparts und Background-Gesang à la 'Gimme Shelter'. Bei Schreibblockaden half Michael Stipe (R.E.M.) gelegentlich aus und machte Lightbody Mut, sodass er am Ende schon beinahe zu überzeugt von seinen Zeilen war: 'Auf die Texte bin ich dieses Mal besonders stolz. Ich versuche eigentlich immer, über persönliche Dinge und Erfahrungen zu schreiben. 'New York' handelt beispielsweise von einer Frau von dort, mit der ich etwas hatte, aber wir waren irgendwie nie zur gleichen Zeit am gleichen Ort und so handelt der Track ausschließlich von verpassten Chancen. Insgesamt dreht sich das neue Album jedoch um die Heimat.'
So werden in 'The Garden Rules' beispielsweise Anekdoten aus der Jugendzeit erzählt, während in 'Lifening' die tiefsten Wünsche besungen werden ('This is all I ever wanted from life'), sei es die Einheit seiner Heimat Irland oder ein guter Vater für die späteren Kinder zu sein. Auch ein Track mit dem Titel 'Berlin' findet sich auf dem Album. Ein reines Instrumental-Stück, das rätseln lässt, ob Snow Patrol von der nächtlichen Schönheit unserer Hauptstadt so ergriffen waren, dass sie keine passenden Worte gefunden haben, oder ob Ihnen Berlin einfach wirklich nichts geben konnte, was sie in einem Song verarbeiten konnten. Zu den größten Balladen des Albums zählt zweifelsohne auch 'This Isn’t Everything You Are' – ein gelungener Aufmunterungsversuch nach einer enttäuschten Liebe. Bei all der Romantik kommen die Stadionhymnen, für die Snow Patrol bekannt sind, nicht zu kurz, wobei sich vor allem 'New York' und 'The Symphony' hervorheben. Nur der sehr dystopische Titelsong 'Fallen Empires' mag nicht so ganz in das Konzept passen, das sonst eher von Leidenschaft als von post-modernen Untergangsszenarien geprägt war. Doch das Fazit des Songs bleibt positiv: 'We are the light.'
Snow Patrol können zu Recht stolz auf ihr neues Album sein. Gleich zu Beginn des neuen Jahres starten sie damit ihre Tour durch Europa, im Februar kommen sie nach Deutschland. Bis dahin bescheren sie den Fans eine passende LP für die besinnliche Winterzeit: mit Kuschelrock für die kalten Tage und für die Weihnachtsmuffel 14 Tracks, zu denen es sich auch gut im Club tanzen lässt. Es ist ein solides und kompaktes Werk, mit dem sie sich in der modernen Szene behaupten können. Sie gehen mit dem Trend, grenzen sich aber deutlich vom Pop-Einheitsbrei ab und behalten trotz Electro-Experimente ihren unverkennbaren Stil. Imperien mögen untergehen, Snow Patrol so schnell jedoch nicht.
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