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Nervecell – Todesblei aus den Arabischen Emiraten

Whiskey-Soda (WS):
Hallo Jungs! Danke, dass ihr euch ein wenig Zeit für unsere Leser nehmt. Unser Magazin heisst ja Whiskey-Soda, und da fragen wir viele unserer Interviewpartner zum lockeren Einstieg nach ihrem Lieblingsgetränk beziehungsweise, ob sie mit einem Whiskey Soda was anfagen können. Aber vielleicht ist das für Musiker aus einem muslimischen Land befremdlich?

Rami H. Mustafa (RM):
Ich spreche gerne mit euch, danke für die Möglichkeit. Also am liebsten trinke ich immer noch Bier. Manchmal auch einen Jägermeister oder einen Wodka Red Bull. Hängt ein bisschen von meiner Stimmung ab und auch, was gerade verfügbar ist.

WS: Stell dich doch mal vor, Nervecell sind jetzt keine Neulinge, aber vom weltweiten Ruhm seid ihr auch noch ein Stückchen entfernt. Wer bist du und welche Bands haben die musikalisch geprägt?

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RM: Ich heisse Rami und bin Gitarrist bei Nervecell. Ich spiele seit meinem fünften Lebensjahr Gitarre, Rock und Metal so seit ich 10 Jahre alt bin. Mein Musikgeschmack, der natürlich auch die Musik prägt, die ich selbst schreibe und mache, ist sehr breit gefächert. Ich mag Death- und Thrash-Metal, Progressive- und Blackmetal und beinahe alles, was dazwischen sonst noch so gibt. Die Bands mit denen ich aufgewachsen bin, sind Slayer, Death, Sepultura, Cannibal Corpse, Pantera, Deicide, Medageth, Morbid Angel und viele andere.

WS : Möchtest du was über deine musikalische Ausbildung und Erziehung erzählen? Vielleicht eine Anekdote über ein Kindheitstrauma, weil dich deine Eltern immer zum Klavierunterricht nötigen mussten?

RM: Ich bin in einer sehr musikalischen Familie aufgewachsen. Mein Vater war professioneller Pianist und mein Onkel Sänger und Oud-Spieler (Die Oud ist eine orientalische Laute mit einem kurzen Hals, Anm. der Red.). Es war klasse, weil ich meinen Vater zu Hause und auch bei seiner Arbeit immer Musik machen sah. Er hatte sogar selbst eine Band wie ich heute. Nur hatte er sich auf Hochzeiten und Festen spezialisiert. Bei diesen (sehr lauten!) Konzerten bin ich als Kind sehr oft dabei gewesen, das war Klasse! Allerdings glaube ich, dass diese Tatsache mich auch insofern geprägt hat, dass ich selbst KEINE arabische Musik machen wollte. Daher auch die Gitarre, das war etwas anderes. Ich hab mir damals vieles selbst beigebracht, indem ich mir die Bands bei MTV bei Live-Aufnahmen angesehen habe. Ich hab dann versucht, sie nachzuahmen und auch die Riffs nachzuspielen (lacht).

WS: Euer drittes Album „Past, Present, Torture“ ist ja gerade erschienen. Der Titel erweckt bei mir den Eindruck, dass es um aktuelle weltpolitische Geschehnisse oder gesellschaftliche Themen gehen könnte. Auf dem Cover-Artwork kann man wenn man will, Anspielungen auf den Klimawandel erkennen. Ist an meinen Spekulationen was dran, oder wie sieht das thematische Konzept aus?

RM: Wir haben vier Jahre lang hart am neuen Album gearbeitet. Das Konzept unterscheidet sich von unseren ersten beiden Alben „Preaching Venom“ und „Psychogenocide“. Dort haben wir unser Hauptaugenmerk auf menschliche und soziale Themen gelegt. Nun haben wir eher so etwas wie unsere „eigene Sichtweise“ entwickelt, bei der natürlich historische Erkenntnisse und das aktuelle Zeitgeschehen eine wichtige Rolle spielen. Das alles führt uns in die Zukunft (oder „Folter“) die wir auf uns zukommen sehen, daher „Torture“. Es geht darum wie die Welt war, wie sie ist und wie sie sein wird oder werden könnte.

WS : Was ist dir am Album wichtig oder worauf bist du besonders stolz? In welche Richtung habt ihr euch als Band weiterentwickelt?

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RM: Stolz bin ich darauf, dass wir weiter das machen, worauf wir Bock haben. Wie spielen die Musik, die wir lieben und folgen dabei keinen Trends oder anderen Begrenzungen. Ich finde auch, dass wir unseren eigenen Sound gefunden haben und uns als Musiker besser geworden sind. Wenn man viel auf Tour ist, dann lernt man auch „on the road“ noch einiges. Und was man sicherlich sagen kann, ist dass wir nach einer EP und zwei Alben mit dem neuen Album in punkto Musikalität und Produktion unser bestes Werk vorlegen.

WS: Ihr Jungs kommt ja aus den Vereinigten Arabischen Emiraten. Du hast es schon angedeutet, aber ich hake trotzdem nochmal nach. Spielt ihr denn selbst mit orientalischen Elementen beziehungsweise ist es euch ein Anliegen, den besonderen Charme der Musik aus eurer Heimat nach aussen zu tragen?

RM: Ich bin ursprünglich aus Jordanien, was ja auch zum arabischen Kulturkreis gehört. Aber unser Bandstützpunkt ist Dubai in den Arabischen Emiraten. Ich spiele kein orientalisches Folklore-Instrument. Ich kann zwar ein bisschen auf der Oud herumklimpern und auch ein wenig trommeln, aber richtig spielen kann nicht. Ich war da in meiner Jugend sehr rebellisch drauf und habe diese Musik eher abgelehnt, wie ich schon erwähnt habe. Darum spiele ich heute ja Gitarre in einer Metal-Band. Allerdings muss ich sagen, dass ich mit zunehmendem Alter durchaus Respekt für die arabischen Instrumente entwickelt habe.

WS: Du musst diese Frage vermutlich ziemlich oft beantworten, aber wie ist es, in einem arabischen Land in einer Death Metal Band zu sein? Ich würde vermuten, dass ihr da sicherlich bestimmte Herausforderungen zu bewältigen habt. Bei uns in Europa ist Kunst- und Redefreiheit ja eine völlig normale Sache, um ein Beispiel zu nennen.

RM : Das ist total normal. Viele haben natürlich ein durch die Medien geprägtes Bild des mittleren Ostens und denken, es muss bestimmt komisch sein, in einem solchen Land in einer Death-Metal-Band zu spielen. Ich verurteile da niemanden, weil in den Medien vieles verzerrt oder schlicht falsch widergegeben wird. Es gibt einfach sehr wenige von uns. Sehr wenige gute Death Metal Bands. Meinungs- und Kunstfreiheit haben wir hier genauso wie ihr in Europa. Man muss vielleicht ein bisschen mehr auf Kultur und Traditionen achten, die es zu respektieren gilt. Ein Vorteil ist natürlich auch, dass Dubai eine Weltmetropole ist und im Bezug auf Musik und Unterhaltung sehr offen ist.

WS: Eine Band aus dem Mittleren Osten, die sich als „musikalische Botschafter“ zur Vermittlung zwischen den kulturellen und religiösen Konflikten sehen, sind Orphaned Land aus Israel. Sie thematisieren immer wieder die Überwindung dieser Grenzen und Konflikte und haben auch in der arabisch-muslimischen Welt eine grosse Fangemeinde. Wie nahe steht euch eine solche Haltung, die ja in gewissem Sinne politisch ist?

RM: Wir sind nicht politisch und wir sind auch keine Botschafter gegen kulturelle oder religiöse Konflikte. Wir konzentrieren und zuerst auf das musikalische, das ist uns wichtiger als Texte oder Konzepte. Wir spielen extremen Metal, weil es unsere Leidenschaft ist. Natürlich haben wir über die Jahre auch unseren eigenen lyrischen Stil und Sound entwickelt, zu dem auch orientalische Instrumente und Klänge gehören, wenn es zum Inhalt der Texte passt.

WS: Als Musiker seinen Lebensunterhalt zu bestreiten ist in den meisten Fällen eine grosse Herausforderung. Gleichzeitig ist es schwer, sich als Band zu etablieren, wenn man sich nicht voll darauf konzentriert, weil man beispielsweise noch einem Job nachgehen muss. Wie hast du dieses Dilemma für dich gelöst?

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RM: Als wir mit der Band immer häufiger auf Tour gingen, habe ich beschlossen, nicht mehr länger einem geregelten Job nachzugehen. Ich hab mich stattdessen 2009 selbstständig gemacht, weil ich gemerkt habe, dass ich der Band meine volle Aufmerksamkeit widmen muss. Dazu gehört vor allem Promotion und regelmässig auf Tour zu sein. Wenn man eine Band ist, die einen Plattenvertrag hat und tourt, ist das eben auch ein Vollzeitjob, der mehr oder weniger wie jeder andere Job auch funktioniert. Ich hab also neben meinem Studium viel über das Musikgeschäft gelernt, was mir dann bei der Selbstständigkeit geholfen hat. Weil ich passionierter Musiker bin, habe ich ein Gitarrenladen aufgemacht. Seit 2014 habe ich auch noch ein Café und bin daher immer sehr beschäftigt, habe es aber geschafft, eine gute Balance zwischen Musik, Geschäften und ein Privatleben hinzukriegen. Es fällt mir ohnehin schwer, für jemand anderen zu arbeiten, das ist einfach nicht mein Ding. Von daher bin ich sehr froh und dankbar, dass ich so meinen Leidenschaften mit den gewissen Freiheiten nachgehen kann, die man als Selbstständiger so hat.

WS: In einer Band zu sein, die mit einem gewissen Anspruch Musik macht, muss eine faszinierende, unvorhersehbare Reise sein, so wie das Leben an und für sich. Welche Momente auf dieser Reise bedeuten euch als Band am meisten?

RM: Es ist eine wahrhaft magische Reise. Gemeinsam mit meinen Freunden Musik zu machen und diese unseren Fans zu präsentieren ist einfach der Wahnsinn. Wenn ich realisiere, dass die Leute Bock auf unsere Mucke haben, unsere Konzerte besuchen, dass wir eine echte Fangemeinde haben, bin ich nach all den Jahren harter Arbeit immer sprachlos vor Dankbarkeit. Für uns ist das nicht selbstverständlich. Was uns am besten gefällt ist das Reisen durch die Welt, neue Menschen zu treffen und Freundschaften zu schliessen – und mit den Bands, die wir als Kids gehört haben, auf derselben Bühne zu stehen. Natürlich geht diese Reise mal bergauf und mal bergab, aber letztlich ist es das Verbindende, was es einzigartig macht. Und darum geht es ja im Leben eigentlich, nicht wahr?

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